Vortrag von Dr. Burckhard
Dietterle auf der Tagung "Jazaf 95" mit Ergänzungen bis Juni 1997.
Alle Rechte beim Autor. Prof. Dr. Johannes Dietterle - Initiator für
Esperanto In der Zeit seit
1991 konnte ich von meinem Großvater, Prof. Dr. Johannes Dietterle, dank der
umfassenden Unterstützung von vielen Esperantisten, durch Auswertung von
Briefen, Reden und Veröffentlichungen einen Überblick über seine Tätigkeit in
der Esperantobewegung zusammenstellen und kann damit einen ersten Beitrag zur
Charakterisierung der Persönlichkeit von Johannes Dietterle geben. Zunächst möchte
ich einige kurze Informationen über seinen Lebenslauf geben. Johannes
Dietterle, der 1866 in Chemnitz geboren wurde, erhielt seine Schulausbildung
nach dem Umzug der Familie 1872-76 in Dresden in der 3. Bürgerschule, 1876-77
in der Annen-Realschule und 1877-85 im Gymnasium zum Heiligen Kreuz. Dort legte
er auch das Hochschulreifezeugnis ab. Danach war er Einjährig-Freiwilliger im
II. K. S. Grenadierregiment Nr. 101, wo er auch Reserveoffizier wurde.
Anschließend begann das Studium an der Universität in Leipzig in Theologie,
Philosophie und orientalischen Sprachen. Sein erstes theologisches Examen hatte
er SS.1889. Danach folgten das zweite theolog. Examen, die pädagogische
Staatsprüfung und die Prüfung zur Kandidatur für den Höheren Schuldienst in
Germanistik, Geschichte und philosophischer Propädeutik. Die Promotion zum Dr.
phil. erfolgte in Geschichte, Philosophie u. Pädagogik. Ab 1889 war er
Hauslehrer bei der Familie von Fr. Siemens bis 9/90. Danach war er nochmals
Hörer an der philosophischen Fakultät in Tübingen. Als Lehrer wirkte er im
Königlichen Gymnasium in Bautzen und in der Städtischen Realschule in
Frankenberg. Am 1.1.1892 ging er an das Königl. Gymnasium in Döbeln. 1893 wurde
er Diakonus in Mittweida und heiratete dort. Von 1896 bis 1907 war er als
Pfarrer in Burkardswalde bei Pirna/Sa. tätig. Im Jahr 1907 kehrte er jedoch in
das Schulamt zurück, indem er an die
Studienanstalt und I. Höhere Schule für Mädchen in Leipzig ging. Hier
wurde er Professor und Oberstudienrat. Im Weltkrieg meldete er sich als
Freiwilliger und kämpfte, u.a., als Oberleutnant vor Ypern/ Belgien. 1916 wurde
er Leiter des Rekrutendepots in Werdau/Sa. Schon bis zu
dieser Zeit war er schriftstellerisch zu religiösen, literarischen,
philosophischen sowie kultur- und heimatgeschichtlichen Themen tätig (Beispiele
[1,2,3,4]). Das Studium und
die kreativen Beiträge zu dieser Vielfalt von wissenschaftlichen Themen führten
daher schon in seiner Jugend zu einer Weltanschauung, die in ihren Grundzügen
der "Ideo" von Zamenhof sehr nahe kam. Es ist deshalb nicht
verwunderlich, daß er frühzeitig mit der Esperantobewegung in Berührung kam und
dort die Möglichkeit erkannte, schöpferisch viele seiner Vorstellungen umsetzen
zu können. Ausgehend von der
Beschäftigung mit Volapük um die Jahrhundertwende, die aber ergebnislos
abgebrochen wurde, kam bereits 1908 während des UK in Dresden der erste Kontakt
mit Esperantisten zustande. Er hielt sich während des UK als Nicht-Esperantist
in Dresden auf, beobachtete mit großem Interesse die Verständigung der
Teilnehmer aus vielen Ländern und war überrascht über den reibungslosen Ablauf
auf der Grundlage dieser Hilfssprache, die offenbar schon damals große
Fortschritte zu verzeichnen hatte. Wenig später ist
er schon aktiv in der Esperanto-Bewegung tätig. So wird er 1909 im Rahmen der
Jahrestagung der "Deutschsprachigen Esperantisten Gesellschaft" in
Gotha als führende Persönlichkeit der Bewegung (Mitglied des Beirates)
bezeichnet. Nach der Verlegung des Königlich-Sächsischen Esperanto-Institutes
von Dresden nach Leipzig im Jahr 1913 verstärkte sich die Mitarbeit in dieser
Institution. In der Folge trat er insbesondere bei der Vorbereitung und
Durchführung des deutschen Esperanto-Kongresses in Leipzig 1914 als
Vorsitzender des Lokalen Organisationskomitees hervor. Nach dem Ausscheiden von
Dr. A. Schramm als Leiter des Institutes hat er dann 1914 zunächst dessen
Leitung kommissarisch übernommen. Der Ausbruch des 1. Weltkrieges und seine
Teilnahme an den Kämpfen im Westen führten jedoch zur Notwendigkeit, ihn durch
Leipziger Esperantisten, Rössel und Wilhelmi, vertreten zu lassen. Das Institut
war zunächst im Ortsverband untergebracht worden und es standen 5
Esperanto-Lehrer und der Sekretär Hahn zur Verfügung. 1916 schied er jedoch
aus der Armee aus und wurde im selben Jahr als Leiter des Königlich-Sächsischen
Esperanto-Institutes in Leipzig vom zuständigen Ministerium
bestätigt [5]. Die von ihm nunmehr eingeleiteten Initiativen zur Aktivierung
der Esperanto-Arbeit, insbesondere die Vorbereitung auf die Zeit nach
dem Krieg, sind bewundernswert. Eine Beratung im Jahr 1917, die als "Kriegberatung" in die Geschichte des Institutes eingegangen ist, setzte dafür
schon sehr konkrete Ziele. Es wurden Fragebögen zur Mitgliedschaft versandt,
eine wissenschaftliche Abteilung geschaffen und aus allen Gegenden Deutschlands
Bücher übernommen. Für das Institut wurde ein Raum angemietet.Eine Sekretärin
nahm ihre Arbeit auf. Die Neutralität des Institutes wurde von Anfang an
betont. Nach 1918 ist
eine regelrechte Aufbruchstimmung zu verzeichnen. Kontakte zum Ausland wurden
wieder möglich, Esperanto wurde bei der Messe eingeführt und in der Deutschen
Liga für Völkerbund konnte die Bewegung bekannt gemacht werden. Schon für den
UK in Den Haag 1920 konnte er konkretes statistisches Material über die Nutzung
und Verbreitung des Esperanto, v.a. bei der Korrespondenz in der Wirtschaft und
im Rahmen des Schulunterrichtes, zusammenstellen. Staatliche Stellen in dem neu
gegründetem Land Sachsen gaben dazu Richtlinien über die Einbeziehung dieser
Hilfssprache heraus. Als
Arbeitsbereiche bildeten sich neben der Statistik, den Schulen und der
wissenschaftlichen Abteilung der Verkehr mit dem Ausland, die propagandistische
Tätigkeit, der Kontakt zu den Esperanto-Organisationen in Deutschland und die
Bücherei heraus. Ausgehend von den
guten Ergebnissen in Sachsen waren seine Hauptziele, über Sachsen hinaus in der
1918 entstandenen Deutschen Republik wirksam zu werden, das Unterrichts- und
Prüfungswesen einheitlich und niveauvoll zu gestalten und durch sorgfältige
statistische Arbeit laufend Übersichten über die Aktivitäten der
Esperanto-Bewegung zur Verfügung zu stellen. Auf diesem Weg wurden
freilich neben den Esperanto-internen Problemen die politischen und
ökonomischen Wirren der damaligen Zeit zu großen zusätzlichen Hürden. Dennoch
gelang es ihm und dem Direktorium des Institutes, 1922 die zuständigen
Instanzen der Reichsregierung von der Notwendigkeit und Richtigkeit der
Schaffung eines zentralen Esperanto-Institutes für das Deutsche Reich zu
überzeugen. Eine in diesem Zusammenhang durch das Institut erstellte
statistische Erhebung über die Esperanto-Bewegung im In- und Ausland hatte für
die Entscheidungsfindung große Bedeutung gehabt [6]. Es waren aber nicht nur
das zuständige Reichsministerium des Inneren, sondern auch Institutionen des
Völkerbundes in Genf, wo er 1922 Gelegenheit hatte mit seinen Arbeitsergebnisse
international aufzutreten und seine statistischen Ergebnisse auf einem
Internationalen Pädagogenkongreß vorzutragen. Hierzu hatte er u.a. 14
Aktenordner, gebunden und geordnet, vorlegen können, also Material, das auch
viele der zahlreichen Skeptiker überzeugen konnte. Das positive Echo spiegelte
sich dann in der ersten, in dieser Organisation angenommenen Resolution wider. In Deutschland
führten seine Initiativen dazu, daß er 1922 zum ersten Direktor des nunmehr von
der Regierung geschaffenen Esperanto-Institutes für das Deutsche Reich in
Leipzig ernannt wurde. Er leitete es bis zu seiner Pensionierung 1932. Es ist bereits hier
zu beobachten, daß die Aufgaben im Institut ihn, da er sein Schulamt weiter
ausübte, von Anfang an physisch und psychisch stark in Anspruch nahmen. So
stellt er 1922 fest: "Nach 8 Jahren intensiver Esperanto-Arbeit bin ich
bereits tüchtig abgenützt und fürchte zur Konferenz in Genf gänzlich zusammen
zu klappen". Die Fülle der Aufgaben veranlaßte ihn daher, nach dieser
Erweiterung seines Aufgabengebietes sein Schulamt vorzeitig aufzugeben und nach
einer zweijährigen Beurlaubung in den Vorruhestand zu treten, um seine
ergeizigen Ziele möglichst schnell und umfassend zu verwirklichen. 1922 konnte nach
dem Verzicht des Deutschen Esperanto-Bundes, eigene Prüfungen abzuhalten, der
Aufbau des einheitlichen Prüfungswesen für das Deutsche Reich beginnen. Im
Laufe seiner Amtszeit entstanden rund 30 ministeriell bestätigte
Prüfungskommissionen, die ihrerseits 125 ehrenamtliche Prüfungskommissionen
betreuten [7]. Sein
unermüdliches Wirken für die Entwicklung der nationalen und internationalen
Esperanto-Bewegung führten dazu, daß er neben der Institutsleitung zu
zahlreichen Verpflichtungen in vielen anderen Gremien angehalten wurde. In
diesem Zusammenhang bekam er maßgebende Esperanto-Ämter auf internationaler
Ebene angetragen und wurde so in vielen europäischen Ländern wirksam. Seine Ämter
waren, z. B.: ·
Mitglied
der "Akademio de Esperanto" ·
Vizepräsident
des "Lingva komitato" ·
Mitglied
des "Centrala Komitato de UEA" ·
und
Leiter der Abteilung für Statistik und Literatur des CK ·
Kommissionsmitglied
in der Esperanto-Abteilung der Deutschen Liga für Völkerfreundschaft ·
Leiter
der "Interfoira Komisiono" ·
Leiter
der Arbeitsgruppe "Kunlaborado" mit der IALA ·
Leiter
des von dem sächsischen, dem nationalen und dem internationalen Lehrerverband
im Kontakt zu IALA gebildeten Arbeitskreises Er berichtete
regelmäßig auf den nationalen und internationalen Esperanto-Kongressen über die
Ergebnisse der Arbeit seines Institutes und war bei der organisatorischen und
inhaltlichen Vorbereitung der Kongresse führend tätig. 1923 wurde er mit der
Präsidentschaft des UK in Nürnberg betraut und konnte so wesentlich zum
Gelingen dieses von ca. 3200 Esperantisten aus aller Welt besuchten Ereignisses
beitragen. Mit Beginn der
Tätigkeit von Rundfunksendern gewann er die Verantwortlichen im Leipziger
Rundfunk für Esperantosendungen und wurde so zum Initiator der Ausstrahlung des
Esperanto-unterrichtes, übernahm auch selbst einen Teil seiner Durchführung und
vermittelte Esperanto-Lehrkurse an breite Volksschichten. Die von ihm verfaßte
Esperanto-Sprachlehre mit Übungsstoff ist in dieser Zeit entstanden [8]. Zur effektiven
Einflußnahme auf die Verbreitung des Esperanto gehörte auch die Gewinnung von
führenden Persönlichkeiten des Verlagswesens und Buchhandels. Im Verlag Ferdinand
Hirt & Sohn in Leipzig hatte er neben dem Verlagsleiter insbesondere im
Leiter der Fachabteilung Esperanto, B. Kötz, einen unermüdlichen Mitkämpfer.
Einige Publikationen betreute er auch als Lektor. Gleichzeitig verfaßte er
selbständig Aufklärung- und Belehrungsschriften und führte öffentliche,
schriftliche und mündliche Auseinandersetzungen mit den zahlreichen Gegnern des
Esperanto in allen Bereichen von Wissenschaft, Kultur und Politik [9, 10, 11,
12, 13]. Die insbesondere
in Leipzig Anfang dieses Jahrhunderts zur Führung der Korrespondenzen des
"Meßamtes" entstandenen Esperanto-Messeabteilungen wurden unter
seiner Leitung zusammengeführt und konnten dadurch ihre Wirksamkeit wesentlich
verbessern. Unter Federführung des Institutes wurden, z. B., auch schon vor
1920 Branchenverzeichnisse für die Messe in Esperanto bereitgestellt [14]. Die
Zusammenarbeit wurde schließlich unter seiner Leitung international erweitert. Ein Höhepunkt
seiner Tätigkeit für Esperanto war zweifellos die Zusammenstellung und der
Druck von Briefen, Reden und Aufsätzen von Zamenhof im "Originala
Verkaro". Es wurde für viele Jahrzehnte eines der wichtigsten
Standardwerke für die Esperantisten in aller Welt [15]. Die Durchführung
von Vorlesungen in Esperanto, wie er sie, z. B., 1925 während der ersten
Sommer-Universität in Genf hielt, konnte er zu seinem großen Bedauern auf Grund
der umfangreichen Aufgaben im Institut nicht fortsetzen. Auch der Kontakt zum
Gruppenleben der Esperantisten in Leipzig, den er immer als eine seiner
wichtigsten Aufgaben betrachtet hatte, war zeitlich kaum noch einzuordnen. Schon 1923 verbreitete er einen
Aufruf zu disziplinierter, zielstrebiger, Ordnung und Pünktlichkeit bei Erfüllung
übernommener Aufgaben. Er wirkte überall auf die Mitglieder der Bewegung
ein, die Notwendigkeit von organisatorischen Maßnahmen und die Unterordnung
unter Festlegungen der gewählten, führenden Gremien des Bundes anzuerkennen, Sinn
für das Ganze zu entwickeln und Selbstzucht zu üben. Er forderte dazu
auf, gegenüber Dienststellen korrekt aufzutreten sowie übertragene Aufgaben, wie,
z. B.,Berichte oder Fragebögen aus dem Gruppenleben, sorgfältig abzufassen. Unbeholfenheit
und endlose Diskussionen über Nichtigkeiten sah er
als gefährliche Hindernisse bei der Lösung der Aufgaben des Bundes an.
Gewissenhaftigkeit und Konstruktivität sollten die noch vorhandene Gleichgültigkeit, Ermüdung,
ja Faulheit überwinden sowie Vorurteile und Erscheinungen des
bösen Willens beseitigen. Er stellt insbesondere fest, daß "die
Denkfaulheit die stärkste und mächtigste Gewalt der Welt sei" . Die vielfach
zu beobachtende Resignation unter Mitgliedern veranlaßte ihn, sein Credo:
Weiterkämpfen, auch wenn man selbst den Sieg der Bewegung nicht mehr erleben
wird, immer wieder aufs Neue den "samideanoj" zuzurufen. Überhaupt haben ihn die vielfältigen Organisations-
und Koordinierungsarbeiten, insbesondere auch die Bewältigung der
finanziellen Probleme des Institutes, die Erfüllung der Aufgaben in
seinen diversen Esperanto-Ämtern, der ständige Kampf um die Anerkennung
und Verbreitung des Esperanto, aber auch viele zeitaufwendige und
nervenzehrende Auseinandersetzungen in der Esperanto-Bewegung selbst,
schon Anfang der 20-iger Jahre arbeitsmäßig weit überfordert, v. a.
auch, weil er, wie schon erwähnt, zunächst noch im Lehramt stand. Er
beklagte sich in Korrespondenzen wiederholt darüber, daß er zur
eigentlichen Arbeit viel zu wenig komme und nur ein "Mädchen für alles
bzw. ein Dienstmann" sei. Er hatte bisweilen sogar die Stimmung, "alle
Arbeit hinzuwerfen" [16]
[1].
Bezüglich des
Entwicklungsstandes der Esperanto-Bewegung kam er nach vielen Jahren intensiver
Arbeit, z. B.,1924 auch zu der Auffassung, daß "die Esperanto-Bewegung entgegen
anderen zweckoptimistischen Aussagen keinesfalls vor dem Siege steht, sondern
noch vollständig in den Kinderschuhen steckt". Dennoch blieb sein strategisches
Denken und Handeln von dieser aktuellen Situation unbeeinflußt und
er betrachtete die Vorbereitung der deutschen und internationalen Esperantobewegung
auf die umfassenden Aufgaben nach einer verbreiteten Anerkennung
des Esperanto als aktuelle Aufgabe für alle verantwortlichen Gremien.
Für in stand fest, daß "neue Ideen nicht mit Knüppeln totzuschlagen
seien, daß sie nicht zu Tode zu ignorieren seien" . Die Diskrepanz
zwischen seinem Denken und Handeln und der Einstellung vieler Mitglieder des
DEB kommt, z. B., in seiner Einschätzung zu den Ergebnissen des generell als
erfolgreich bekannten UK in Nürnberg zum Ausdruck, indem er betont, daß
"er mit der eigenen Arbeit überhaupt nicht zufrieden gewesen sei",
aber feststellen mußte, daß "man offenbar dennoch den Geschmack des
Publikums getroffen hätte". Die Befriedigung,
die ihm sein eigentlicher Beruf sowie insbesondere die wissenschaftliche und
schriftstellerische Tätigkeit auf historischem u. literaturgeschichtlichem
Gebiet immer gebracht hatte, konnte er bei seiner Aufopferung für Esperanto
nicht mehr erreichen. Es zeugt deshalb
um so beeindruckender von seiner Begeisterung für die große Idee der
Esperanto-Bewegung und von seiner kompromißlosen Pflichterfüllung für die
übernommene Aufgabe, daß er für diese bis zum letzten Tag in seinem Amt seine
ganze Person, auch mit vielerlei Nachteilen für die Familie, eingesetzt hat. Obwohl das
Esperanto-Institut von der Regierung bestätigt war und jährlich ein kleiner
Etat zur Verfügung stand, hat im Institut fast immer Geldnot geherrscht, da der
Staat bei der Gründung des Institutes die Organisierung von privaten Zuschüssen
zur Bedingung für seinen Beitrag gemacht hatte. Diese kamen aber trotz vieler
platonicher Sympathieerklärungen nie im erforderlichen Maße zustande. Der
hierfür geschaffene Patronatsverein hatte keine finanzielle Basis schaffen
können, so daß das Esperanto-Institut eigentlich, wie er feststellte, nur von
den "unteren Ständen und vom wirtschaftlich heruntergekommenen
Mittelstand" getragen wurde. Es gab nur ganz wenige Sponsoren aus
vermögenden Kreisen, die ihn allerdings dann in der Regel sehr zuverlässig
unterstützten. Er konnte jedoch trotz unermüdlicher Werbung und Einwirkung auf
Institutionen und einflußreiche Personen diese Situation nicht ändern. Da der Staat den
Nachweis von Finanzmitteln aus privaten Bereichen verlangte, war es bei deren
Zurückhaltung nicht verwunderlich, daß die Staatshilfen immer zäher flossen.
Nachdem auch noch die politischen Veränderungen 1927 im zuständigen Ministerium
der Reichsregierung zu personellen Konsequenzen führten, "hing das
Institut immer mehr in der Luft". Die dann folgenden vielen Ratschläge von
allen Seiten halfen ihm nicht, sondern er mußte permanent und sehr energisch
die Mithilfe und Taten, vor allem von den deutschen Esperantisten selbst,
fordern. Ein persönliche
Konsequenz aus der finanziellen Situation war die Einschränkung seiner
Reisetätigkeit, insbesondere die Teilnahme an den Internationalen Kongressen.
1927 auf dem Danziger Kongreß ist er zum letzten Male unter den Teilnehmern
eines UK zu finden. Im Hinblick auf
die wegen des Erreichens seiner Altersgrenze erforderliche Neubesetzung des
Institutsleiters, stellte er fest, daß "wahrscheinlich niemand unter
solchen desolaten Finanzverhältnissen bereit sein wird, wie er zu arbeiten, und
damit die Institutsarbeit in Frage gestellt ist". Mit jedem Tag
wurde seine Sorge um den Fortbestand des Institutes immer größer [17]. Ab 1930
häuften sich auch die Verlautbarungen und Stellungnahmen aus Kreisen führender
Esperantisten bezüglich der finanziell schlimmen Zustände im Institut. Dennoch bemühte
er sich er sich ohne Pause um die Erhöhung der Wirksamkeit der Arbeit auf
internationalem Gebiet. In den letzten Jahren seiner Tätigkeit waren es
besonders Vorstellungen zur Neuorganisation der nationalen und internationalen
Kongresse der Esperantisten, die er in die Diskussion brachte und noch mit
Gleichgesinnten durchsetzen wollte. Er betrachtete dabei die sachliche und inhaltliche
Tätigkeit auf organisatorisch gut vorbereiteten und durchgeführten Kongressen,
also weitgehend als Arbeitstagungen gestaltetet, als wichtigen Faktor für die
Festigung und Erweiterung der Esperanto-Bewegung und damit für die Anwendung
des Esperanto in der Welt [18]. Da er der Lehrerschaft bei der Schaffung eines
Durchbruches mit Esperanto eine besondere Rolle zuordnete, gründete er mit dem
sächsischen, dem nationalen und dem internationalen Lehrerverband, auch im
Kontakt mit der IALA, einen Arbeitskreis, den er leitete. In der Folge wurde
ein breit angelegtes Aktionsprogramm erstellt und mit seiner Realisierung
begonnen [19]. Aber auch hier
stieß D. bei der Schaffung von einheitlichen Orientierungen infolge einer
Vielzahl weit auseinandergehender Auffassungen auf große Widerstände, so daß er
bis zu seiner Pensionierung keine wesentlichen Änderungen durchsetzen konnte. Mit der Arbeit
des Deutschen Esperanto-Bundes war D. nie recht zufrieden. Er kommt deshalb
1928 schließlich zu der Feststellung, daß "Esperanto in Deutschland fast
ausschließlich von der Lehrerschaft und der Arbeiterschaft getragen wird".
Bei den Arbeitern würden sich sogar einige ihrer "Anführer" für
Esperanto interessieren, während das Bürgertum abseits stehe. Er ist der
Auffassung, daß nur ernsthafte Esperantisten und die Arbeiter-Esperantisten ihm
Befriedigung geben konnten. Da sich auch die staatlichen Stellen, die
anfänglich ein gewisses Interesse zeigten, immer mehr zurückzögen, wäre es doch
angebracht, "wenigstens Experimente zu dulden". Doch seine
jahrelangen beharrlichen Versuche, etwas durch "Druck von unten" in
Gang zu setzen, waren vergeblich [20]. Die ständigen
Auseinandersetzungen mit den Esperanto-Gegnern aller Couleur führten, u. a.,
auch dazu, daß D. seine Sachlichkeit und Unvoreingenommenheit bei wichtigen
Entscheidungen nicht immer bewahren konnte. So hatte er, z. B., 1925 beim
ersten Auftreten von Alice Morris, der Gründerin der IALA, in Europa äußerste
Zurückhaltung geübt und ohne die nötige Prüfung ihres Anliegens die
Zusammenarbeit abgelehnt, da ihm die IALA nicht kompetent für die europäische
Esperanto-Bewegung erschien. Bei einer Begegnung 1927 schlug seine Haltung dann
aber völlig um und er begann mit A. Morris und ihrer Organisation, unter
Einbeziehung des Institutes J.J. Rousseau in Genf, eine sehr enge
Zusammenarbeit, wobei er für die hierzu geschaffene Arbeitsgruppe
"kunlaborado" im DE f. d. DR einen ständigen Mitarbeiter als Sekretär
bereitstellte und auch ein Korrespondenzbüro in New York eröffnete [21]. Wie intensiv und
zielstrebig der Kontakt zu A. Morris und der IALA für seine Ziele ausgenutzt
wurde, wird auch dadurch dokumentiert, daß sein "Originala verkaro"
der "energischen und couragierten Vorkämpferin für Esperanto, A. Morris
" 1929, also schon 4 Jahre nach seiner schroffen Ablehnung ihrer Ideen,
gewidmet worden ist. Er rechnete die persönlichen Begegnungen
mit A. Morris zu den "interessantesten und fruchtbringendsten
in seinem ganzen Leben" . Im Briefverkehr
mit Freunden wird, um ein weiteres Beispiel anzuführen, Stojan von D. als
"merkwürdiger Kunde, Anarchist, Schnüffler etc." dargestellt. Ihm
gegenüber ist diese, zunächst auch als Voreingenommenheit erscheinende
persönliche Abneigung offenbar aber unverändert geblieben. Typisch ist aber
zugleich für ihn, daß er insbesondere das "fabelhafte Wortwissen"
Stojans als sehr wertvoll für die Bewegung anerkennt. Sein zäher Kampf
um die Durchsetzung des Neuen und Progressiven für die Sache der Bewegung
spiegelt sich besonders im Ringen um die Anerkennung der Leistungen von Prof.
Dr. Eugen Wüster auf dem Gebiet der Nutzung des Esperanto für Zwecke der Terminologie
in Wissenschaft und Technik wider. E. Wüster war überzeugt, daß "die
Technik aus Esperanto die gleichen Vorteile wie Chemie aus ihrer
internationalen künstlichen Nomenklatur ziehen kann". Wüster hatte ihn,
als Direktor des Sächsischen Esperanto-Institutes, 1920 gebeten, ihm beim Druck
der ersten Bände seines Enzyklopädischen Wörterbuches (EV) Unterstützung zu
geben [22]. Er erkannte in dem 32 Jahre jüngeren Studenten schon nach kurzer
Zusammenarbeit das große Talent und den angehenden Wissenschaftler. Leider
haben trotz seiner umfassenden Aufklärungsarbeit weite Kreise der Esperantisten
eine "unbegreifliche Indolenz" gegenüber den wissenschaftlichen
Arbeiten von Wüster gezeigt und die führenden Köpfe in den nationalen und
internationalen Esperanto-Organisationen haben es nicht vermocht, dessen
bahnbrechenden Ideen zu begreifen und ihn vor allem auch für die
Esperanto-Bewegung zu begeistern und dadurch für unsere Sache zu nutzen. So hatte Wüster
nur relativ kurze Zeit in Berlin Schulkurse für angehende und ausgebildete Ingenieure
organisiert, die Bildung von Prüfungskommissionen initiiert und sich selbst in
ihnen betätigt, da er 1923 zu dem Schluß kam, daß "für ihn keine
Möglichkeit besteht, effektiv in und für die Esperanto-Bewegung zu
wirken". Dennoch hat D. in
der Folge immer wieder Kongresse, Beratungen und andere Gelegenheiten genutzt,
die großen Möglichkeiten der Ausnutzung der Arbeiten Wüsters für Esperanto
aufzuzeigen. Da, z. B., auch Stojan die Arbeit Wüsters negierte, ging er sogar
mit scharfer Kritik in einem offenen Brief an die Öffentlichkeit. Doch dies alles
blieb eine vergebliche Mühe und er mußte schließlich resignierend feststellen,
daß "eine große Gelegenheit, die Anwendung des Esperanto nach den
Vorstellungen Wüsters voranzutreiben, leider verlorengehen wird". Wüster selbst
äußerte sich dazu in einem Brief, wie folgt: "Es wird einmal eine Zeit
kommen, in der das selbstverständlich ist, vor dessen Nichtachtung ich die
Waffen streckte". Dennoch blieb D.
überzeugt, daß "die Arbeiten Wüsters zukünftig voll zu Geltung kommen
werden und damit auch Esperanto noch seinen Nutzen ziehen wird". Es zeugt von der
engen geistigen Verbindung zwischen diesen beiden Persönlichkeiten, daß Wüster,
völlig unbeeinflußt von der Zurückhaltung, ja Ablehnung, die aus Esperantokreisen
gegenüber seinen Arbeiten zum Ausdruck kam, jahrelang einer der wichtigsten
Sponsoren des Institutes geblieben ist. Das Schicksal des
EV spiegelt diese Problematik anschaulich wider. Die Fertigstellung des
Manuskriptes und der Druck zogen sich trotz der weitgehenden Eigenfinanzierung
durch Wüster über fast ein Jahrzehnt hin und auch dann waren noch nicht alle
vorgesehenen Bände erschienen. Ursachen waren auch die enormen wirtschaftlichen
Schwierigkeiten , die der Verlag durchzustehen hatte und der sehr
unbefriedigende Absatz des Werkes. D. bringt mehrmals sein Unverständnis für
das Desinteresse der Öffentlichkeit für dieses wissenschaftlich einmalige Werk
zum Ausdruck. Auch in der
Haltung gegenüber den Esperantisten aus Arbeiterkreisen wich D. von der
Einstellung vieler führender Esperantisten, die auf Distanz blieben, ab. Er
suchte vielmehr Kontakt zu ihnen, unterstützte ihre Aktivitäten im Rahmen
seiner Möglichkeiten und stellte die auch bei ihm als bürgerlichem
Intellektuellen vorhandenen, politisch motivierten Vorbehalte für solche
Kontakte hintenan. Er betrachtete ihre Organisation stets als wichtigen Teil
der Esperanto-Bewegung, der unbedingt weitgehend zu integrieren ist [13]. Dies
schien ihm um so wichtiger, als es in den zwanziger Jahren offensichtlich war,
daß die Arbeiter-Esperantisten in ihrer Öffentlichkeitsarbeit und
Unterrichtstätigkeit, aber auch in ihrer Ausstrahlung über die Ländergrenzen
hinweg, schneller vorankamen als andere Bevölkerungskreise. Bei den Recherchen
"Zur Geschichte der deutschen Esperanto-Bundes in Leipzig fand Ino Kolbe,
z. B., als Beleg für diese Haltung auch ein von D. verfaßtes Gutachten, das die
Polizeibehörde im Zusammenhang mit der 1924 beabsichtigten Herausgabe des von
den Arbeiter-Esperantisten getragenen "Völkerspiegels" von ihm erbat
und das, dank seiner Darstellung, positiv wirkte [23]. Interessant war,
daß ihn in den letzten Jahren seiner Tätigkeit auch die in der Sowjetunion
entstandenen Schwierigkeiten von Esperantisten, die mit dem Institut in Verbindung
standen, beschäftigten. Auch hier bemühte er sich, unbeeinflußt von den damals
vorhandenen Tendenzen slawischer Kreise, gegen germanische Esperantisten
Stimmung zu machen, zu helfen. Es war allerdings bei den damals bestehenden
Einwanderungsbedingungen äußerst schwierig, die erwünschte Übersiedlung nach
Deutschland zu ermöglichen. Die politische
Situation hat nach seinem Ausscheiden aus dem Institut nicht nur dazu geführt,
daß die Institutsarbeit eingestellt werden mußte, sondern bewirkte auch, daß
die Tätigkeit der Esperanto-Organisationen in Deutschland zum Erliegen kam
[24]. Für D. wurde diese Entwicklung zu einer persönlichen Katastrophe, da er
die Einstellung der öffentlichen Aktivitäten für Esperanto in Deutschland nicht
verwinden konnte. Nach seiner
Pensionierung hatte er sich zwar bereiterklärt, auch weiterhin beratend zur
Verfügung zu stellen und ,z. B., noch 1933 Veröffentlichungen in
Esperanto-Zeitschriften verfaßt, aber dann doch die Kontakte zu
Esperantokreisen aufgegeben, ja es kam soweit, daß er das Thema Esperanto im
Familien- und Bekanntenkreis "nicht mehr hören wollte". Dies führt uns zu
den eingangs gemachten Bemerkungen über das Fehlen von mündlichen oder
schriftlichen Informationen zurück, denn gerade aus diesem Grunde sind detaillierte
Gedanken und Äußerungen zu dieser Zeit von ihm auch im Bereich der Familie
leider nicht überliefert. Seine Hausbibliothek ist nicht auffindbar.
Desgleichen ist, wie bereits erwähnt, offenbar keinerlei persönlicher
Schriftwechsel aus seinem Besitz und aus dem Institut aufbewahrt worden.
Freilich trifft man auf solche Hinterlassenschaften bei seinen
Korrespondenzpartnern und in Institutionen der Esperantobewegung. So befindet sich
im Besitz des Sohnes von E. Wüster, Thiele Wüster, z. B., ein Briefwechsel mit
D. im Umfang von nahezu 1000 Schreibmaschinenseiten [16]. Solche
Erfolgserlebnisse sind natürlich für mich ermutigend, die Recherchen über das
Wirken von Johannes Dietterle fortzusetzen und ich hoffe, daß ich damit die
Arbeit für "Historiographie" in unserer Bewegung weiter unterstützen
kann. Literaturverzeichnis
Ergänzungen bzw. Korrekturen
zu Publikationen von Dietterle, J. Dietterle, J. Die
franziskanischen "Summae confessorum" und ihre Bestimmungen. Programm
des Gymnasiums. Döbeln: [Druck Thallwitz] 1893, 38 S. [Über den Ablaß
(Kat.)]. Dietterle, J. Was kann
geschehen von unserer Seite, um dem Sonntag seine sociale Bedeutung zu sichern?
Vortrag Pirna 1898. Pirna: Diederichs 1898, 37 S. Dietterle, J. Rückblick auf
1898, 1899, 1900. In: Kirchl. Jahrbuch für die Gemeindeglieder der Kirchfahrt
Burkhardswalde. Dohna, Dresden [1899-1901]. Dietterle, J. Über die
Reform des Religionsunterrichtes in der Volksschule. Leipzig: J. Klinkhardt 1907
[Vortrag gehalten in Pirna]. Dietterle, J. Die beiden
Perioden von Lessings Fabelbeldichtung. Leipzig: Bär & Hermann 1912,
48 S. Wiss. Abhandlung zu dem Programm der städt. Studienanstalt und der
1. Höheren Mädchenschule zu Leipzig Ostern 1912. Dietterle, J. Bericht über
die int. Konferenz zur Einführung des Esperanto in die Schulen (Genf). Die
Arbeit der Genfer Konferenz. In: Germana Esperantisto 19 (1922),
S. 108-111. Dietterle, J. Immanuel Kant 1724-1924. In: Esperanto 21 (1924), S.
69. Dietterle, J. Chu la tutmonda statistiko sukcesos? In: Esperanto 319, 3 (1927),
S. 60. Dietterle, J. Herders
Schrift "Gott" und ihr Verhältnis zur Philosophie Spinozas. [Näheres
nicht bekannt]. [Weitere Werke s. den
Esperanto-sprachigen Kurzlebenslauf zu Dietterle]. [1] Die in
Anführungszeichen stehenden Satzteile beziehen sich hauptsächlich auf diesen Schriftwechsel.
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